Kunstwerk des Monats Juni 2022

KEROUAC: Unterwegs (On The Road. Viking Press, 1957)

Ein Vergleich mit der Odyssee wäre zu hoch gegriffen, aber tatsächlich ist Jack Kerouacs Unterwegs doch genau das: Menschen auf der Suche irren kreuz und quer durch den Raum. Nur dass nicht auf Schiffen über das Meer, sondern in diversen Fahrzeugen über einen Kontinent gefahren wird, hier: die USA. Zum Vergleich: die Strecke quer durch dieses Land entspricht mindestens der Entfernung Madrid – Moskau. Diese immense Fläche ist Schauplatz der inneren und äußeren Erkundungen in Unterwegs.

Kerouac entzündet sein Roadmovie in Romanform an zwei Gestalten, dem nachdenklichen Erzähler Sal Paradise und dem unbändigen Dean Moriarty, die aufeinandertreffen wie ein loses Blatt und eine Windbö. Die Fahrten dieser Brüder im Geiste führen sie – aus Sals Blickwinkel – durch die Stadien ihrer Freundschaft: Begegnung (New York – San Francisco – New York), Sals zunehmende Begeisterung und erste Warnung vor Dean (New York – New Orleans – San Francisco – New York), gemeinsame Erfüllung und Entfremdung voneinander (New York – Denver – San Francisco – Chicago – New York), Deans Verrat (New York – St. Louis – Denver – Laredo – Mexico City – New York) und Sals Erkenntnis (New York).

Denn ob mit dem Zug, dem Bus oder dem Auto, Unterwegs durchmisst in den Weiten Nordamerikas einen metaphysischen Raum. Während der frisch geschiedene, kinderlose Sal sich eine Frau und ein Zuhause wünscht, tobt der jüngere Dean als Ehemann und treusorgender Vater mit seiner ersten Frau im Schlepptau zwischen seiner eigentlichen Familie und einer Zweitfrau hin und her, mit der er ebenfalls ein Kind hat. Aber Sals und Deans Charaktere sind trotz ihrer Widersprüchlichkeiten ineinander verschränkt und haben alles gemeinsam: Sehnsucht nach Bindung, Ungebundensein und Ekstase; die menschlichen Grundbedürfnisse von Geborgenheit, Wachstum und Transzendenz.

Man braucht es beim ersten Lesen nicht zu wissen, aber Kerouac brachte Unterwegs mithilfe von literweise Kaffee innerhalb von drei Wochen zu Papier. Weil es ihm lästig war, dauernd neue Papierbögen in die Schreibmaschine einspannen und die Seiten nummerieren zu müssen, fertigte er den ersten Entwurf gleich auf einer Rolle Fernschreiberpapier an, einzeilig und ohne Absätze oder Ränder. Erst nach vierzig Metern kam das Manuskript zum Stehen und ist mittlerweile ein museales Artefakt, the scroll.

Kerouac brauchte Figuren oder eine schlüssige Romanhandlung nicht zu entwerfen. Er erfuhr sein späteres Buch im wahrsten Sinne des Wortes. Sein Leben Ende der 1940er Jahre übertraf an Farbe, Fülle und Geschwindigkeit alle Fiktion, die er sich am Schreibtisch hätte ausdenken können. Die vier beschriebenen Fahrten fanden wirklich statt und lassen sich in Kerouacs Biographie genau datieren, und wie für alle seine Romane lässt sich auch für Unterwegs eine Konkordanz der fiktiven und der realen Personen erstellen. Unterwegs ist Kerouacs niedergeschriebenes Leben. Seine eigentliche Kunst liegt darin, sich einem solchen Leben ausgesetzt zu haben und davon zu berichten, ohne die realen Vorbilder auf Scherenschnitte zu reduzieren oder als Exempel zu missbrauchen. Es gibt kein Besser oder Schlechter in Unterwegs, nur ein Plädoyer.

Man sagt dem Roman gerne nach, er bilde das ‚Lebensgefühl einer Generation‘ ab oder sei das ‚Kultbuch einer Generation‘, beides mit einigem Recht. Aber es war nicht Kerouacs Generation. Ursprünglich hatte er das Unbehagen seiner eigenen, früheren Clique formuliert.

Nach dem zweiten Weltkrieg hatten die USA ihr nationales Trauma mit einem normativen Wohlstandswahn betäubt, dessen Inbegriff die weiße Vorstadtfamilie war. Das Korrektiv zur Rettung des dadurch bedrohten amerikanischen Traumes ließ nicht lange auf sich warten. Zwischen Kriegsende und Ausbruch des Koreakriegs traf in New York eine Handvoll junger Männer zusammen, die in der maßgebenden weißen, angelsächsisch-puritanischen Mittelschichtskultur nicht heimisch waren und es nicht werden konnten oder wollten. Das innere Dreigestirn dieser literarischen Szene – der Beat Generation – verkörperte diverse Gegenentwürfe religiöser, sexueller und sozialer Natur: Allen Ginsberg, William S. Burroughs und Jack Kerouac.

Kerouac, der im März 2022 hundert Jahre alt geworden wäre, entstammte selbst einer frankokanadischen Familie aus Massachusetts. Seine Muttersprache war das Französisch dieser katholischen Kultur; erst bei Schuleintritt lernte er Englisch, das er noch als Jugendlicher nicht akzentfrei beherrschte. Ausweg aus diesem konservativen Milieu war ein Sportstipendium an einer Universität, das Kerouac erhielt und infolge einer Verletzung kurz darauf wieder verlor.

Dieser Bruch eröffnete Kerouac seine Lebensperspektive als Autor. Nach ersten konventionellen Gehversuchen, die immerhin einen Verlag fanden, lernte er die Menschen kennen, mit denen zusammen er das erlebte, was er später so unwiderstehlich in Unterwegs festhielt, allen voran den später zur Legende gewordenen, aus einem Obdachlosenheim stammenden Kleinkriminellen Neal Cassady.

Er war es, der als ‚Dean Moriarty‘ den rasenden Takt von Unterwegs vorgab. Was Sal – Kerouacs alter ego – erträumt, wird an Deans Seite wahr. Drogen, flüchtige Frauenbekanntschaften und der aufkommende Bebop versetzen sie in einen endlosen existenziellen Rausch. Deans Hingabe an den Moment verleiht ihm einen Sinn, den seine Unrast aber auch sofort schon wieder zerstört. Alle Begegnungen und Ereignisse unterliegen diesem irrwitzigen Taumel, Aufbrüche sind unmotiviert, Ziele willkürlich, Begründungen hergeholt und fadenscheinig. Und die Unverbindlichkeit kennt keine Grenzen: Dean lässt Sal zuletzt im Stich. Trotzdem ist es auch dieses bedingungslose Freidrehen, das Unterwegs in den 1960er Jahren zum Kultbuch machte, als Umbruch und Entgrenzung die vorangegangene konventionelle Erstarrung beendeten; Galionsfiguren dieser Zeit wie Bob Dylan, Jim Morrison oder Patti Smith waren von ihm inspiriert.

Dass Kerouac sich später davon distanzierte und nach dem Aufbruch seiner jungen Jahre, einem rast- und zuletzt haltlosen Leben zu Gast bei Freunden, nach gescheiterten Ehen, aussichtslosen Liebschaften und kurzfristigen Jobs in die Enge seiner Heimatstadt zurückkehrte, in eine Großfamilie einheiratete und sich seiner Alkoholsucht ergab, ist eine andere Geschichte. In einem Brief an einen Studenten schrieb er 1961, acht Jahre vor seinem Tod: „Dean und ich waren zu einer Reise durch […] Amerika aufgebrochen […] um das Gute im amerikanischen Menschen zu finden. Es war eigentlich die Geschichte von zwei katholischen Kumpeln, die auf der Suche nach Gott kreuz und quer durchs Land fahren. Und ihn auch gefunden haben.“[1]

Caroline Hartge
Lyrikerin und Übersetzerin

Die Verfasserin dankt Michael Kellner für seine freundliche Unterstützung.

Anmerkungen

[1] In a letter to a student in 1961, Kerouac wrote: "Dean and I were embarked on a journey through post-Whitman America to FIND that America and to FIND the inherent goodness in American man. It was really a story about 2 Catholic buddies roaming the country in search of God. And we found him." John Leland (2007). Why Kerouac Matters: The Lessons of On the Road (They're Not What You Think). New York: Viking. p. 17. <Wikipedia, 20. Februar 2022; Übers. d. Verf.>